Die Heimatlosigkeit des Menschen in einer globalisierten Welt

In "Weißgold-Flügel" trifft eine in Bayern aufgewachsene Wahl-Berlinerin auf einen Amerikaner australischer Abstammung. Ist das konstruiert? Vielleicht. Unrealistisch? Wohl kaum, schon eher
gelebte Realität in einem Jahrhundert, in dem Flexibilität und Mobilität von Arbeitnehmern erwartet werden. Die Welt ist zum Dorf geworden, das (berufliche) Jetten um den Globus Alltag. Aber wo ist dann unsere Heimat? Wo fühlen wir uns noch verwurzelt?

Die Gründe, warum Menschen ihren Geburtsort verlassen, sind vielfältig. Anna verlässt ihr Heimatdorf, weil sie schon früh spürt, "dass sie ihr Elternhaus verlassen musste, wenn sie nicht darin ersticken wollte. Dass dieser Ort zwar Heimat, aber nicht Zuhause bedeutete. Dass etwas auf sie wartete: Eine Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte draußen in der Welt und dass sie nicht ihren Eltern, sondern sich selbst verpflichtet war." Was sich genau dahinter verbirgt, ist bewusst offen gelassen. Doch wer die Interaktionen mit ihren Eltern aufmerksam liest, erahnt die Zusammenhänge.

David verlässt sein Elternhaus auf der Flucht vor sich selber und seinen traumatischen Kindheitserinnerungen. Dabei ist die Distanz, die er zu dem Ort seiner Kindheit schafft, ungleich größer als bei Anna. Sydney und Darwin trennt ein ganzer Kontinent, während Anna in München auf Tuchfühlung mit Rosenheim bleibt. Nach Berlin folgt sie ihrem ersten Mann auch nur widerstrebend, David scheint es keine Probleme zu bereiten, Australien ganz zu verlassen.

Das vermeintliche Heilmittel schlägt er auch Anna vor: "Berlin ist eine tolle Stadt, keine Frage. Aber Los Angeles ist etwas ganz anderes. Ich glaube, es würde dir guttun, einmal herauszukommen. Hier begegnen dir an jeder Ecke die Geister deiner Vergangenheit. Wie sollst du dich da von ihnen lösen können?“

Er übersieht dabei, dass eine äußere Distanz zu den "Geistern der Vergangenheit" nicht zwangsläufig eine innere Lösung von ihnen zur Folge hat. So taumeln beide Protagonisten wurzellos auf einem ihnen eigentlich fremden Kontinent einem gemeinsamen Leben entgegen, das den Keim des Scheiterns in sich trägt. Der Schmerz der Auseinandersetzung mit dem Erlebten ist zu groß; es geht ums nackte Überleben.

Beide Elternpaare nehmen ihren Kindern auf jeweils ihre Weise das Fortgehen übel bzw. haben Probleme damit, die von ihnen eingeschlagenen Lebenswege zu akzeptieren. Annas Eltern lernen ihr Enkelkind erst kennen, als es schon ein Jahr alt ist, Davids Eltern sogar erst mit sechs. Der Generationenvertrag scheint aufgelöst, die Verbindung abgerissen. Und doch lassen sich manche Heilungsprozesse nur an ihrem Ursprung anstoßen, weshalb die Reise nach Australien am Ende des Romans erfolgen muss, um bestimmte Dinge aufzuklären. Ebenso wie Annas Besuch an Thomas´ Grab.


                            Volkspark Friedrichshain



"Im Volkspark Friedrichshain lagen viele Leute in Badebekleidung auf der Wiese und lasen. Begleitet von Vogelgezwitscher und gedämpftem Verkehrslärm spazierten sie vom Pavillon aus in Richtung des großen Teiches. „Was g-genau hast du vor mit meinen Erinnerungen? Was erwartest d-du von mir? Was wird mich in Los Angeles erwarten?“, wiederholte Anna ihre Fragen.

„Du hast mir bisher nur wenig über das erzählt, was passiert ist. Ich würde gerne verstehen, wie es zu dem Unfall gekommen ist und was es mit dir gemacht hat, dein Kind zu verlieren.“ Unvermittelt kam David eine andere Frau in den Sinn, die er das noch nie gefragt hatte. Er würde in Ruhe darüber nachdenken müssen, warum er nun bei Anna bereit war, so genau hinzusehen und sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie ihm erzählte.

„D-das heißt, ich müsste meine ganzen schmerzhaften Erinnerungen mit dir teilen?“ Ein kleines Kind spazierte auf einem Steg auf den Teich hinaus, um Enten zu beobachten. `Die Kleine hätte Sarahs Freundin werden können´, dachte Anna und wandte sich ab.

David nickte. „Ja, aber das kann doch heilsam sein. Ich würde dir auch gerne L.A. zeigen. Berlin ist eine tolle Stadt, keine Frage. Aber Los Angeles ist etwas ganz anderes. Ich glaube, es würde dir guttun, einmal herauszukommen. Hier begegnen dir an jeder Ecke die Geister deiner Vergangenheit. Wie sollst du dich da von ihnen lösen können?“

Anna spürte, wie ihr Kopf und ihre Schultern sanken. Die Trauerweiden am Teichufer schienen mit langen Fingern im Wasser nach verlorenen Blättern zu angeln."

aus: "Weißgold-Flügel"
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