Spannung gefällig? - Leseprobe zu "Wind aus Südwest"



"Leise schlich Leonie am nächsten Tag in Jans Büro und schloss die Tür hinter sich. Jan saß über seinen Schreibtisch gebeugt und sah erstaunt auf. Leonie kam nicht in sein Zimmer. Nie. Und wenn, dann nur kurz, um etwas zu bringen oder abzuholen. Ihm schwante nichts Gutes, als Leonie
ihn dabei auch noch ernst ansah. Carina war eine attraktive Frau, keine Frage, aber Leonie gefiel ihm besser. Sie war nicht so scharfzüngig und überlegen wie die Savannen-Schönheit. Jan mochte sich ihre Sprüche gar nicht ausdenken, wenn sie erfahren hätte, dass er mit Ende zwanzig noch immer bei seinen Eltern lebte. Gut, dass er sorgsam darauf geachtet hatte, dass das niemand erfuhr. [...]
Auch nicht Leonie, für die er seit Langem eine Schwäche hatte. Sie schien das nicht zu merken, weil sie noch immer auf ihren Kotelettenmann fixiert war. Obwohl der sie verlassen hatte, um irgendwo auf der arabischen Halbinsel riesige Bürogebäude für das saudische Königshaus zu bauen. Was musste das für ein Schwachkopf sein! Eine Freundin wie Leonie verließ man nicht, die hütete man wie eine Schatzkiste! Jan hatte ihn einmal gesehen, als er Leonie im Büro abholte. Ein hünenhafter Kerl mit schulterlangen Haaren und einer Nase, die offensichtlich mal gebrochen war. Hätte man ihm einen schweren Hammer in die Hand gedrückt und einen roten Umhang umgelegt, so hätte er problemlos den „Thor“ in der Marvel Comic-Verfilmung spielen können. Kein Wunder, dass er Leonie besser gefiel als Jan, der fast einen Kopf kleiner und weichlich war.
Er rechnete sich nicht wirklich Chancen bei ihr aus, aber einen Versuch war es allemal wert. Vielleicht kam der Hüne ja nicht zurück vom Golf.
Wenn Jan auch nicht körperlich beeindruckend war, gab es andere Dinge, mit denen er punkten konnte. Sein Computerwissen zum Beispiel. Er hatte mit dem Bitcoinhandel ein bisschen Geld verdient und kannte sich im Darknet besser aus als irgendein anderer in diesem Verein hier. Da konnte ihm keiner so schnell etwas vormachen. Und sein Avatar bei „World of Warcraft“ schlug sich mehr als wacker in der digitalen Welt. Stundenlang saß er abends vor dem PC und spielte, während seine Eltern fernsahen oder schliefen. Auszugehen und Frauen kennen zu lernen, war nicht gerade das, was er gut beherrschte. Viele fanden seine ungeschickte Art, sich anderen Menschen über flotte Sprüche zu nähern, unangenehm. Dabei meinte er es gar nicht böse. Er hatte lediglich keine Ahnung, wie er es sonst anstellen sollte. Leonie nahm ihm die Späße nicht übel, sie ignorierte sie einfach. Und nun kam sie tatsächlich zu ihm ins Büro und ging nicht gleich wieder raus, sondern schloss sogar die Tür hinter sich!
„Was verschafft mir die unverhoffte Ehre?“, fragte er und versuchte, seine Freude zu verbergen.
„Du hast sie gesehen, nicht wahr?“
„Wen?“
„Carina. Im Netz. Du hast gesehen, was man mit ihr gemacht hat, oder?“
Oje, daher wehte der Wind. Das würde kein Flirtgespräch. Sein Blick wurde schuldbewusst. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie es war. Man konnte die Frau auf dem Video nicht gut erkennen.“
„Siehst du dir freiwillig so ein Zeug an?“
„Nein. Das ist vor mir aufgepoppt, als ich Bitcoins ordern wollte.“
Leonie sah ihn zweifelnd an.
„Ehrlich. Die haben das nicht nur ins Netz gestellt, sondern darauf abgezielt, dass es möglichst vielen Leuten ins Auge springt, die sich so etwas eigentlich nicht ansehen.“
„Und warum hast du es dir angeschaut?“
„Weil ich dachte, ich hätte unsere Savannen-Schönheit darin erkannt. Ich wollte das nicht glauben und mich vergewissern, dass sie es nicht ist.“ Jan wand sich unbehaglich. Mit einem Kreuzverhör hatte er nicht gerechnet.
„Und ist sie es?“
„Ich bin mir nicht sicher. Deshalb habe ich dich ja gefragt, ob du etwas weißt.“
„Zeig mir das Video!“
Jan hob abwehrend die Hände. „Glaub mir, das willst du nicht sehen.“
„Zeig es mir!“
„Ich kann mich nicht hier während der Bürozeit ins Darknet einwählen!“
„Metzner ist beim Finanzamt und Isabel schon weg. Wir sind allein hier. Zeig es mir. Jetzt!“
„Mensch, man kommt doch nicht mit einem Standardbrowser ins Darknet! Dafür musst du Tor installiert haben und das tue ich ganz sicher nicht auf einem dienstlichen Rechner.“
„Was für ein Tor?!“
„Das ist der Onion-Router, ein Anonymisierungsdienst, den man als Browser-Bundle installieren kann. Den habe ich nur auf meinem Laptop.“
Leonie sah zu seiner Aktentasche. Sie wusste schon lange, dass Jan sein Notebook ständig mit sich herumschleppte, als habe er Angst, es könne ihm gestohlen werden. Nun war ihr auch klar, warum. Das Gerät war in der offenen Aktenmappe deutlich zu erkennen. Sie hob die Augenbrauen. Jan fluchte leise vor sich hin und zog den Laptop widerwillig aus der Tasche. Er stellte ihn vor sich auf den Tisch und klappte ihn auf. Bevor er sich einwählte, sah er Leonie an. Sie seufzte und drehte sich weg, während er sein Passwort eintippte. Dann öffnete sich der Tor-Browser „Vidali Kontroll Panel“ und Jan klickte „Tor starten“ an. [...]
„Das Video poppt nach einem unvorhersehbaren Algorithmus auf, falls sie es nicht inzwischen wieder rausgenommen haben“, murmelte Jan und tippte abermals merkwürdige Zeichenkombinationen ein. Aber auch auf der Bitcoin-Tankstelle, bei der der Link zu dem Video beim letzten Mal eingeblendet worden war, war nichts zu finden.
„Geh bitte auf die Seite der Deutschnationalen Liga“, forderte Leonie ihn gewollt teilnahmslos auf.
Jan warf ihr einen schnellen Blick zu. „Ich nehme an, ich brauche nicht zu wissen, wie du auf die kommst?“
„Genau, brauchst du nicht. Können die dich sehen, wenn du auf deren Seite gehst?“
„Natürlich nicht, das ist ja der Sinn des Schichtensystems. Die finden nur den letzten Knotenpunkt, über den ich verbunden wurde.“
„Muss ich das jetzt verstehen?“
„Nein, es reicht, dass du weißt, dass wir genauso anonym bleiben wie die, wenn die im Darknet unterwegs sind.“
Leonie nickte zufrieden. Ein Geräusch an der Eingangstür zum Büro ließ beide zusammenfahren.
„Ich gehe nachsehen“, flüsterte Leonie. „Such du bitte weiter.“
Sie verließ das Zimmer und schloss schnell die Tür hinter sich. Im Foyer war niemand zu sehen, aber die Stille war trügerisch. An Leonies Armen bildete sich eine Gänsehaut. Auf Zehenspitzen schlich sie in Richtung von Metzners Büro, denn von dort war ein Atmen zu hören. ..."
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