Leseprobe zu Wind aus Südwest

"Langsam schritt Carina die Reihe der Gräber auf dem Melatenfriedhof ab. In unmittelbarer Nähe der Aachener Straße war es zu laut. Sie wollte es lieber friedlich haben, wenn sie
hier begraben wurde. Das Gelände war weitläufig verzweigt und von zahllosen alten Bäumen bewachsen. Gedankenverloren betrachtete sie die Engelskulpturen, die etliche der Grabstätten bewachten. Dabei hielten sie die Lebensfackeln umgedreht und mit der Flamme nach unten, weil das Lebenslicht ihrer Schützlinge erloschen war. Die Figuren hatten nichts, was den Glaubensvorstellungen der Herero entsprochen hätte. Mutlos sah Carina auf ein solches Fackelende. Warum konnte die Flamme nicht einfach verlöschen, wenn der Lebenswille die Seele verlassen hatte?
Eine Gruppe Schaulustiger folgte raschelnd einem ge-schwätzigen Führer an ihr vorbei. Das Gelände hatte es weit gebracht: Vom Sperrbezirk der Leprakranken, den Maladen, außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer, zum bekanntesten Kölner Friedhof. Touristen kamen, um die Skulpturen zu bewundern oder die letzten Ruhestätten Prominenter aufzusuchen. Carina interessierte sich eher für die verwahrlosten und überwucherten Orte. Endlich fand sie das Familiengrab der Hillgerts auf der „Straße der Millionäre.“ Mausoleen und weitläufige Grabanlagen, de-ren Erwerb ein Vermögen kostete, reihten sich hier an-einander. Generationen von Hillgerts ruhten hier neben Wirtschaftsbossen und ehemals stadtbekannten Größen.
Auch Margarete und Pauls Bruder Franz waren hier be-erdigt worden. Für Paul war eine Gedenktafel angebracht, obwohl er nicht in der Gruft lag. Ein Kind, geboren 1905, war nur wenige Monate alt geworden. Einen Moment lang glaubte Carina, die Trauer um dieses viel zu früh verschiedene Menschenwesen zu spüren, als hinge die verzweifelte Traurigkeit wie ein Schatten in der Luft. Friedhöfe waren kein geeigneter Ort für Hochsensible oder Depressive. Die Herero setzten sich vor Sonnenaufgang an ein eigens dafür hergerichtetes Feuer, um sich mit ihren Vorfahren zu „treffen.“ Was taten die westlichen Menschen, um ihrer Trauer Herr zu werden und sich mit ihren Verstorbenen auszutauschen?"
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