"Prolog
08. Juni 1904
Leutnant Paul Hillgerts hielt sich an der
Reling fest und blickte aufs Meer hinaus. Der Wind zerrte an seinem Hut und
trug den rußigen Dampf des Kaminschlotes mit sich. Die salzige Luft brannte im
Gesicht. Wäre er ein Seemann, würde ihm dieses verdammte Schaukeln und das
ununterbrochene Dröhnen der Maschinen nichts ausmachen. Aber er war kein
Seemann und so kämpfte er seit drei Wochen mit einer Übelkeit, die aus einem
Mann
einen erbärmlichen Jammerlappen machen konnte. Und die anfangs gutmütigen
Scherze, die seine Kameraden darüber machten, gewannen zunehmend an Bosheit, je
deutlicher der Gruppenkoller sich an Bord breitmachte. Lange würde er das nicht
mehr ertragen.
Warum hatte er sich nur auf dieses
Himmelfahrtskommando eingelassen? Der Kaiser hatte befohlen, seine Schutztruppe
in Deutsch-Südwestafrika zu verstärken, um den Aufstand der Herero
niederzuschlagen. Soweit so gut. Die Kaffer hatten über hundert weiße Siedler
und Soldaten grausam ermordet, und Bahn- sowie Telegraphenlinien zerstört. Das
konnte das Reich sich nicht bieten lassen, so viel war klar. Es gab Stimmen,
die mit Nachdruck die Ausrottung der Eingeborenen forderten. Und nun reiste er
im Namen des Kaisers ans Ende der Welt.
Die Eleonore Woermann dröhnte und
stampfte nun seit Tagen an der Westküste Afrikas entlang. Bis Swakopmund konnte
es nicht mehr weit sein. Die Maschinen schoben sie beständig ihrem Ziel
entgegen. Vielleicht, wenn alles schnell ging, fuhr er beizeiten zurück zu
Margarete, die auf ihn wartete. Er hatte sich nur für diesen Einsatz gemeldet,
um zügig zum Hauptmann befördert zu werden. Selbst wenn er höhergestuft würde,
kam er immer noch nicht auf die geforderten 4.000 Reichsmark jährlich. Erst
dann durfte er Margarete ehelichen, das hatte sein Vorgesetzter ihm
unmissverständlich klar gemacht. Vorher würde er ihm die Heiratserlaubnis nicht
erteilen. Gischt spritzte über den Bug und Hillgerts ins Gesicht. Unwillig
wischte er das Meerwasser mit dem Uniformärmel weg. Es hatte keine Rolle
gespielt, dass er aus wohlhabendem Elternhaus stammte und sie standesgemäß war.
Dann kam es auf den Einfluss und die finanzielle Lage seiner Familie an. Beides
stellte keine wirkliche Hürde dar. Bei dem Gedanken an seine Verlobte, ihren
Liebreiz, ihr sanftes Gemüt und ihr letztes gemeinsames Stelldichein wurde ihm
warm ums Herz. Für ihn stand außer Frage, dass sie die Mutter seiner
Nachkommenschaft sein würde.
„Muss i denn zum Städtele hinaus“ hatte die
Kapelle am Hamburger Hafen gespielt, von wo aus der mit Soldaten und Kampfgerät
beladene Dampfer Richtung Afrika in See stach. Bei „und du, mein Schatz,
bleibst hier“ waren ihm Tränen in die Augen gestiegen. Hunderte Angehörige
waren gekommen, um ihre Liebsten zu verabschieden. Nur er war ganz allein.
Dabei war es nicht sein eigener, sondern der ausdrückliche Wunsch seines Vaters
gewesen, dass er eine Militärlaufbahn einschlug. Und sein Vater war es wiederum
gewesen, der ihm zugeredet hatte, sich für diesen vermaledeiten Einsatz in
Südwestafrika zu melden. Auch nach Ostafrika waren Truppen entsandt worden. In
den Kolonien war der Teufel los. Hatte der Völkerpsychologe Wilhelm Wundt nicht
geschrieben, dass die Eingeborenen auf einer der untersten Stufen der
Menschheitsentwicklung standen? Warum fügten sie sich dann nicht in ihr
Schicksal und ließen sich die Segnungen der Zivilisation angedeihen? Paul
Hillgerts kannte Wundts Schriften. Nicht alle, aber einige. Manche Kameraden
hielten Hillgerts für unwissend, weil er so jung war und er ließ sie in dem
Glauben. Wer unterschätzt wurde, hatte den Vorteil auf seiner Seite. Heimlich
las er gleichwohl die Bücher bedeutender Wissenschaftler der Neuzeit. Und wer
wusste, ob sich ihm nicht doch die Gelegenheit bot, das Soldatenleben hinter
sich zu lassen und sich an der Universität einzuschreiben?
Dazu musste er aber diesen Kampfeinsatz
überleben und er war noch nie in Afrika gewesen. Die Bedingungen dort waren für
ihn Neuland. Einige Kameraden, die sich auskannten, sprachen von der
Unwegsamkeit des Geländes, von ausgedehnten Wüsten und Großwildtieren.
„Behalte bloß dein Gewehr bei dir!“, hatten
sie ihm eingeschärft. Er würde es beherzigen. Auf die Begegnung mit einem
Elefanten oder Löwen war er nicht erpicht. Auch die Rhinozerosse schienen nicht
ungefährlich zu sein, ebenso wie die giftigen Skorpione. Die Kameraden
erzählten von den primitiven Lebensbedingungen, mit denen man sich dort
abfinden musste, von vergifteten Brunnen voll toter Vögel. Dabei war in den
Missionsstationen Barmen und Elberfeldt im letzten Jahrhundert einiges an
Pionierarbeit geleistet worden. Die Missionare hatten dafür gesorgt, dass sich
die Eingeborenen anständig bekleideten und nicht nahezu nackt herumliefen. In
Swakopmund, Windhuk und Okahandja standen inzwischen Backsteinbauten und
Festen.
Paul Hillgerts zog sich seinen kakhifarbenen
Filzhut tiefer ins Gesicht. Die Krempe hatte er an der rechten Seite
hochgeknöpft, wie es die erfahrenen Soldaten taten. Der Hutrand und das
Mützenband waren in der Farbe seiner Schutztruppe schwarz-weiß-rot gehalten.
Von Generalleutnant von Trotha, der mit an Bord war und den Oberbefehl über die
Truppe führen würde, hatte er aus dessen Zeit in Ostchina wenig Gutes gehört.
Einmal mehr bedauerte er seine Entscheidung, sich für diesen Einsatz gemeldet
zu haben, zutiefst. Es war eindeutig ein Unterschied, ob man sein Vaterland
gegen den Franzmann oder Russen verteidigte, oder ob man am Ende der Welt
irgendwelchen primitiven Wilden im Namen des Kaisers zeigte, wo ihr Platz war.
Was hatte er mit Deutsch-Südwest am Hut? Nichts! Sandwüsten, Kaffern und
Hottentotten so weit das Auge reichte.
Das rhythmische Stampfen der
Maschinen aus dem Schiffsbauch vibrierte in seinen Gedärmen und er verspürte
das Bedürfnis, sich zu erbrechen. Noch einmal atmete Hillgerts tief die frische
Seeluft ein, dann wandte er sich ab. Hoffentlich konnte er bald wieder heim zu
seiner Margarete."
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